Vom «Sprach- und Unterhaltungsverein» zur « Société Française»

Am 3. Oktober 1862 gründen elf St. Galler, die ein oder zwei Jahre in Frankreich oder in der Westschweiz hinter sich haben, den «Sprach- und Unterhaltungsverein». Ziel und Zweck ist, sich in der französischen Sprache zu üben und Konversation, geschriebene Sprache und Grammatik zu verbessern, wobei die Unterhaltung auch nicht zu kurz kommen sollte, wie wir noch sehen werden.
Man gibt sich jeweils Hausaufgaben für das nächste Treffen, wie z.B. das Konjugieren von Verben. Die ersten Protokolle sind auf Deutsch verfasst und ebenso schön zu betrachten wie schwer zu entziffern, weil in der alten deutschen Schrift geschrieben. Bis 1900 sind die Statuten, Rapporte und Protokolle kalligrafische Kunstwerke.

Einmal wöchentlich trifft man sich zum Schreiben und Diskutieren; zweimal im Jahr findet eine Hauptversammlung statt. Die Präsenz ist obligatorisch. Der Mitgliederbeitrag beläuft sich auf 20 Rappen pro Woche, was im Verhältnis gar nicht wenig ist. Der Vorstand besteht aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und einem Sekretär, Kassier und Bibliothekar in einer Person. Von allem Anfang an leistet man sich nämlich eine Bibliothek.
Man trifft sich im Saal im ersten Stock des Restaurants «Zum Grünen Baum» am Bohl, welcher grosszügig dem Verein zur Verfügung steht, ohne dass das Licht in Rechnung gestellt würde. Vor jeder Sitzung wird ein Appell durchgeführt. Unentschuldigt Abwesende bezahlen 20 Rappen Busse. Am 3. November 1862 ist verzeichnet, dass der Präsident Schneider und die Herren Schlegel, Weber und Kieni mit Verspätung erscheinen, und dies kaum wegen Parkproblemen!
Die 15 Mitglieder stark gewordene Vereinigung hält sich 6 Monate bei Stange, verfolgt ihr Ziel erfolgreich und wechselt dann im März 1863 ihren Namen auf «Société Française».

Offenbar haben die Stunden des Lernens ihre Früchte getragen, denn fortan sind die Protokolle, die Rapporte, Statuten und Berichte auf Französisch abgefasst. Man ermuntert zum Lesen durch Abonnieren von Zeitungen («Le Journal de Genève», «Pour Tous») und kauft Bücher und Grammatiken. 1864 umfasst die Bibliothek im Vereinslokal hinter verriegelter Schranktüre schon 87 Bände. Jetzt schaut man sich nach einem Französischlehrer um.

Monatlich befindet man über die Zulassung neuer Mitglieder. Für ihre Aufnahme müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Anfänglich sind Berufe vertreten wie Postbeamte, Telegraphenchef, Stationsvorstand usf., aber mit dem Mitgliederbestand nimmt auch die Berufsvielfalt ständig zu. Bis 1883 wechseln die Präsidenten ungefähr alle sechs Monate; wir finden darunter Namen wie Tagmann, Leuzinger, Rieder, Gaudin, Tobler, Winterhalter. Weil die Bibliothek 1864 dem Sekretär Schlegel zuviel Arbeit aufgibt, wird eigens ein Bibliothekar ernannt. Die nun fertig zusammengestellten Statuten werden an der Hauptversammlung vom Februar 1866 gutgeheissen und von 78 Mitgliedern unterschrieben. In Flawil, Ebnat-Kappel, Rheineck, Gossau, Bütschwil, Rorschach und Berneck gibt es ähnliche Organisationen, zu denen man bereits Kontakt aufgenommen hat. Diese Jahre sind der Höhepunkt des Vereins in diesem Jahrhundert. Mit dreizehn Stimmen gegen eine wird 1866 Gründungsmitglied und Ex-Präsident Schneider von der Mitgliederliste gestrichen wegen Nichtbezahlens der Mitgliederbeiträge.
Auch Ausflüge gehören zum Vereinsleben; die erste Wanderung geht auf die Vögelinsegg. Bald stellen sich die üblichen Probleme ein, mit der ein Verein zu kämpfen hat. Trotz Bussen greift das Fernbleiben um sich, das Vereinslokal ist zu feucht und der Service nicht mehr zufriedenstellend, für Mitgliederbeiträge muss gemahnt werden, man stellt den Abgang verschiedener Mitglieder ohne Austrittserklärung fest...

Soll man via Zeitungsinserat Neumitglieder anziehen bzw. passive aktivieren? Bei jeder Versammlung wird bereits das Arbeitsthema des nächsten Treffens besprochen, es sind Themen wie «der Tod des Kaisers Maximilian von Mexiko» usw. was bald auch die Frage aufwirft, ob man im Verein über Politik reden dürfe. Vereinsanlässe publiziert Herr Zollikofer vom Tagblatt gratis.

In diesem Jahr (1866) beschliesst man, Fr. 50.- für Brandopfer einzuzahlen, der Bibliothek Fr. 20.- für die Anschaffung der Werke von Eugène Sue zu gewähren, auch die vereinsinterne Gesangsgruppe erhält einen Zustupf, mangels Mitglieder findet sie wenig später, wie der Sekretär notiert, «la paix éternelle», die ewige Ruhe. Der Gruppe Bildung dagegen geht es gut. Präsident Tagmann schreibt, die «von unserem unermüdlichen Polizeikommissar Schlegel geleiteten Grammatiklektionen» seien im vergangenen Jahr von 7 Mitgliedern besucht worden. Die Hauptversammlung entscheidet, dass Ausländer provisorisch aufgenommen werden können, zwei Jahre später werden sie wieder hinaus gestellt. Sie beschliesst auch den Ausschluss eines Mitgliedes wegen Konkurses, damit nicht die «Ehrbarkeit der Gesellschaft» beeinträchtigt wird.

Die Französischkurse werden nun von Professor Rieder erteilt, welcher bald darauf Präsident wird. Zur Belebung der Versammlungen werden Spiele vorgeschlagen, Schach und Karten. Bald grassiert das Jassen, zum Leidwesen einiger, die sich nicht dafür interessieren. Zweimal im Monat gibt es nun «Réunions ambulantes», Versammlungen, wo man sich in einem jeweils anderen Restaurant als dem Stammlokal trifft. Zur Aufheiterung wird ein Fasnachtsabend durchgeführt, wobei das Protokoll nicht festhält, ob Frauen in Männerverkleidung zugelassen waren. Die «Société Française» ist nämlich eine reine Gesellschaft «gestandener» Männer; Frauen sind als Vereinsmitglieder nicht zugelassen. Man kann sich aber nach zähen Diskussionen durchringen, einen 17jährigen Schüler der Kantonsschule aufzunehmen. In dieser Zeit kommt die Gewohnheit auf, sich beim Präsidenten Tobler zusammenzufinden, wo Frau Tobler die Herren mit Getränk bedient. Im Hintergrund ist das weibliche Geschlecht sehr wohl vorhanden.

In den 70erJahren rekrutieren sich die Vereinsmitglieder aus den Berufen Hutmacher, Angestellte, Schneider, Konfiseur, Uhrmacher, Sticker, Drucker, Fotograf, Buchhändler, Advokat, Professor, Pfarrer. Auch ein Ständerat ist dabei. In dieser Zeit ist man Abonnent von Zeitungen und Revuen wie: L'Illustration, Paris Caprice, Le Magasin Pittoresque, Le Journal pour rire, Le Journal Illustré, L'Education, l'Instruction, Le Globe Illustré und La Patrie Suisse. Die Mitglieder können sie schon bevor sie in Umlauf gegeben werden im Vereinslokal lesen.

Um 1882 wird eine Exkursion mit Schiesswettkämpfen (Flobert und Zielscheibe) durchgeführt. Jedes Jahr steht im Herbst eine Sauserfahrt auf dem Programm, wobei folgendes Problem sich stellt: Zu früh im Herbst hat der Sauser noch nicht gezogen, und je länger man zuwartet, desto rarer werden die Teilnehmer, denn alle Welt ist wieder voll in ihrem Trott, und die Tage werden kürzer. Über Rorschach, Risegg, Buchberg, Thal und Rheineck geht die Route; man geht viel zu Fuss, um sich so den Sauser in den verschiedenen Stationen der Degustation zu verdienen. Zufrieden und mit gelöschtem Durst kehrt männiglich dann wieder nach St. Gallen zurück, nachdem man die Schweiz, Frankreich und die «Société Française» so manches Mal hat hochleben lassen.

Trotz all dieser interessanten Anlässe nimmt die Anzahl der Mitglieder der «Société Française» schleichend wieder ab. Von den 78 Personen von 1866 bleiben 1888 noch ihrer 26. Die Bibliothek muss aus dem Museum ausziehen, weil dieses den Platz nun selber braucht. Die Rede ist nicht mehr von Grammatik und Sprachunterricht. Um neue Leute anzuziehen und die Mitglieder zum Mitmachen zu animieren, will man jedes Mitglied zu einem lockeren Vortrag über eines seiner Themen bewegen. Die halbjährlichen Versammlungen spielen sich nur noch unter 8 bis 12 Mitgliedern ab, und die Vorstandssitzungen gehen zügig voran. Bei der Vorbereitung einer Exkursion im Juli 1883 schlägt ein Mitglied vor, die Frauen einzuladen. Die Mehrheit ist dagegen.

In den Jahren vor der Jahrhundertwende gibt es Differenzen zwischen der neuen und der alten Garde. Dank der ausgewogenen Führung Präsident Scheitlins überlebt die Barke den Wellengang. Ans Jubiläum zum 30jährigen Bestehen der «Société Française» in Weissbad kommen bloss 8 Mitglieder. Man beschliesst, den Vorstand auf drei Personen zu reduzieren und sich nur noch zweimal im Monat zu treffen. Die Frauen mitmachen zu lassen steht nicht zur Diskussion.

Gründung des «Cercle Français de Bienfaisance» (1878-1935)

Lassen wir nun die «Société Française» für einen Moment beiseite und wenden wir und einem anderen Verein zu, der 1878 in St. Gallen gegründet worden ist. Es ist der «Cercle Français de Bienfaisance», der Französische Wohltätigkeitskreis, welcher mit fünf echten Franzosen aus Nîmes, Paris, St-Quentin und Belfort seinen Anfang nimmt. Alle sind sesshaft in St. Gallen und versammeln sich unter den Parolen «Patriotismus» und «Philanthropie». Hier kommen wir der französischen Geschichte etwas näher als in der «Société Française».
Der Präsident erklärt an der Gründungssitzung:
«Die aus dem Krieg von 1870 hervorgegangenen Veränderungen haben eine grössere Anzahl Arbeit suchende Franzosen in die Stadt St. Gallen gebracht, die anfänglich ihren Landsleuten in Frankreich Hilfe leisten wollten. Darum hat man sich bereits vordem mit der Gründung einer französischen Vereinigung mit humanitären Zielen abgegeben, was Gegenstand mehrerer Unterredungen mit Monsieur Moutarde, eines unserer aktuellen Mitglieder war. Lange haben wir gezögert und uns bei verschiedenen Gelegenheiten damit begnügt, uns zusammenzutun, um unsere Hilfeleistungen wirksamer zu gestalten».

Aufgrund der kleinen Anzahl eingeschriebener Franzosen entscheidet man sich, auch Westschweizer oder auch Ausländer, die mit den Prinzipien und Statuten der Gesellschaft einverstanden sind, aufzunehmen. Grosszügige, spendenfreudige Mitglieder, wohnhaft in Lyon, Nantes und Paris, werden zu Ehrenmitgliedern ernannt, auch Passivmitglieder nimmt man auf, die zu weit entfernt wohnen, um an den Sitzungen teilzunehmen.

Die Anzahl Aktivmitglieder nimmt regelmässig zu. Man sammelt alte Kleider für Bedürftige, die in St. Gallen vorbeikommen. Die Versammlungen finden einmal in der Woche statt. Auch hier gibt es obligatorische Hauptversammlungen mit Appell, Mitgliederbeiträgen und Protokoll-Verlesungen, Diskussionen über Statuten, Aufnahmen von Neumitgliedern, die dann unter die Patenschaft eines älteren Mitgliedes kommen. Mit dem Löchlibad findet man ein Stammlokal, wo auch ein Klavier vorhanden ist.
1879 ist der «Cercle» 21 Aktivmitglieder und 8 Ehrenmitglieder stark. Übers Jahr hat man 29 Personen Hilfe für Fr. 225.40 zufliessen lassen und ein Guthaben von Fr. 450.- bei der Creditanstalt deponiert. In St. Fiden renoviert man das Denkmal für die internierten Franzosen der Bourbaki-Armee, welche 1871 in St. Gallen gestorben sind, und beschliesst, dort regelmässig einen Kranz niederzulegen. Nachfolgend ein Auszug der Ansprache von Herrn C. Laroche, Mitglied des «Cercle» und Direktor der mechanischen Stickereien in Flawil, zum Anlass dieser Renovation:

«Meine Herren, liebe Landsleute! 1870/71 habe ich an dieser katastrophalen Kampagne teilgenommen, die mit dem Verlust von zwei der schönsten Provinzen Frankreichs geendet hat. Zusammen mit den Soldaten, die unter dieser Erde ruhen und in deren Gedächtnis wir hier versammelt sind, war auch ich in dieser unglückseligen Bourbaki Armee, welche infolge eines fatalen Schicksalsschlages gezwungen war, Schutz auf Schweizerboden zu suchen. Aber das Glück war mir besser gesinnt als ihnen, mir war es vergönnt, das damals zerrissene und heute wieder auferstandene Vaterland, unser immer noch schönes Frankreich, wiederzusehen. Schmerzliche Umstände haben einige von uns gezwungen, unser Heimatland zu verlassen und ein neues zu suchen; verschiedene Beweggründe und Interessen, seien es geschäftliche oder private, halten momentan andere vom Geburtsland fern. Diese verschiedenen Umstände haben uns per Zufall in St. Gallen vereint, aber unser Herz ist französisch geblieben. Lasst uns deshalb die Unglücklichen, die hier liegen, zum Lehrbeispiel nehmen: Sollte einmal die Stunde der Gefahr wiederkommen und wir können nicht alle zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes herbeieilen, dann lasst uns alle wenigstens einen Beitrag leisten, ein jeder nach seinen Möglichkeiten.»

Und noch ein Auszug aus einer Ansprache von Monsieur Lévy anlässlich einer Kranzniederlegung am 14. Juli 1881, der das Gewicht der Geschichte spürbar macht:

«Warum muss sich zu dieser reinen patriotischen Freude auch noch Bitterkeit und Trauer mischen? Wollten Sie, meine Herren, einem Elsässer verbieten, sich mit Wehmut daran zu erinnern, dass es Städte und ganze Regionen gibt, die sich stark mit Frankreich verbunden fühlen und bloss im Geheimen diese Nationalfeier begehen können? Es gibt noch weitere Gründe, unsere Freude zu verhalten und an diesem Tag ernst und traurig zu bleiben: Hier unter dem Gras, auf dem wir stehen, liegen unsere Brüder - tragische Helden, vielleicht die unglücklichsten von allen, welche die blutige Tragödie von 1870 hervorgebracht hat. Sie hatten nicht den Trost, glorreich auf dem Feld der Ehre zu fallen, gestärkt in der Idee, mit ihrem Opfer das Vaterland zu retten. In einem Winkel des Spitals haben sie einen langen und schmerzhaften Todeskampf durchgestanden - aber lange genug um Frankreich besiegt, erniedrigt und besetzt zu wissen. Mit Mutlosigkeit in der Seele sind sie gestorben, mit Verzweiflung über das Vaterland, und nur zu gut spürend, dass dieses Opfer von so vielen schönen und jungen Existenzen zum reinen Verlust geworden war».

Bereits 1879 hat der «Cercle» genügend Mitglieder und verzichtet von nun an wieder darauf, Ausländer aufzunehmen. Bedürftigen erteilt man weiterhin Hilfe; Franzosen auf der Durchfahrt auf Arbeitsuche zahlt man das Zugbillett; Katastrophenopfer (Elm, Glarus 1882) kriegen finanzielle Unterstützung. Ein Vertreter des Schmiedehandwerks wird als Mitglied aufgenommen, weil er Arbeit gefunden hat, und ein Herr Traber, weil er seine «Charakterfestigkeit unter Beweis gestellt»" hat... Eine schwerwiegende Frage beschäftigt den «Cercle»: Soll man Deserteure unterstützen? Davon abgesehen gleicht das Leben des Französischen Wohltätigkeitsvereins demjenigen aller anderer Vereine: Exkursionen, Bankette, Jubiläen, Diskussionen um Statutenänderungen und Wechsel des Vereinslokals. Weniger alltäglich sind Fragen wie: Soll man den 14. Juli feiern, während dem eine Cholera-Epidemie Südfrankreich heimsucht (1884)? Man entscheidet sich für ja. Soll man sich mit anderen französischen Vereinen in der Schweiz zusammenschliessen? Diese Möglichkeit behält man sich für später offen.

1890 wird ein weibliches Mitglied aufgenommen, es ist die Tochter von Monsieur Charney, einem unerwartet verstorbenen Mitglied. Wirkt sich da nun der französische Einfluss aus, oder ist es die Angst vor einem Mitgliederschwund, der in den neunziger Jahren dann tatsächlich eintritt, wie dies übrigens auch in der «Société Française» der Fall ist? In diesem Jahr verzichtet man auf den grossen Herbstausflug, um die dafür vorgesehenen Kosten dem ehemaligen Präsidenten Moutarde zukommen zu lassen, weil dieser krank ist und in einer desolaten finanziellen Lage steckt. In dieser Zeit treten manche solchen Fälle auf: man macht sich Sorgen um seinen Haushalt und wird krank oder die Krankheit zieht, da es keine Krankenkassen gibt, hohe Ärzte- und Spitalkosten und eine problematische finanzielle Situation mit sich.

Hier kann einem die Verankerung im «Cercle» oder in der «Société» nützlich sein: Monsieur Moutarde erhält Fr. 100.–. Auch vorübergehend in St. Gallen weilende Elsässer oder Lothringer in Schwierigkeiten erhalten Fr. 2.– oder Fr. 3.–, und es sind ihrer ganze 81 in diesem Jahr.

1890 ist der Kassabestand tief. Gründe dafür sind u.a. Austritte und Wegzüge. Auch C. Laroche, ehemaliger Vereinspräsident und Direktor der Stickereien von Flawil ist leider weggezogen. Die Gräber von St. Fiden werden weiterhin unterhalten, aber 1894 muss man sich fragen, ob der Cercle weiterbestehen kann. Man trifft sich je länger je weniger; es liegen nur noch einige Kassaberichte vor, von Versammlungen verliert sich plötzlich jede Spur bis 1918. Merkwürdig ist, dass die beiden Vereine, der «Cercle Français de Bienfaisance» und die «Société Française», keine Beziehungen zueinander zu pflegen scheinen und sich gegenseitig in den Archiven dieser Zeit nicht erwähnen.

1918 nimmt der «Cercle Français de Bienfaisance» seine Aktivitäten neu wieder auf und findet ein Lokal im Kaufmännischen Verein, schafft sich Möbel an und nimmt sieben weibliche Neumitglieder auf(!). Man lässt vom französischen Konsul in Zürich eine Statutenänderung vornehmen, was gewisse Vorteile verspricht, empfängt den französischen Botschafter der Schweiz und lässt ihn sich ins «Livre d'Or» des Vereins eintragen. Auch die Kranzniederlegung wird wieder vorgenommen und das Bankett vom 14. Juli wieder durchgeführt. Erst zählt man 21 und bald schon 28 Aktivmitglieder, ein Fotograf wird bestellt, um dies bildlich festzuhalten. Man organisiert fröhliche Tischgesellschaften (Goûters assaisonnés de gaieté), und unter den Gästen befinden sich zwei Delegierte der «Société Française», welche sich seit 1912 neu «Alliance Française de Saint-Gall nennt». Man beschliesst, diesen Austausch von nun an weiter zu pflegen.

Mit einem Beauftragten der französischen Regierung in Bern entscheidet man, für die Organisation von Vortragstourneen prominenter Franzosen zusammen zu spannen. Diese schönen Pläne für Bildungskonferenzen zerbrechen jedoch vorerst an der Grippeepidemie von 1918. Stattdessen hat man im Jahr darauf Grund die Kinderkrippe St. Gallens mit Fr. 500.– zu unterstützen.

1921 zählt der «Cercle» 59 Aktivmitglieder. Aus dem Sekretär, der die Protokolle verfasst, ist inzwischen eine Sekretärin geworden. Man führt Kulturabende mit kurzen Vorträgen (mit Themen wie Mme de Staël, Maupassant, die Diktion, die Vorteile der Hässlichkeit, die Sitten im Hof von Henri II) durch, und kleine Produktionen beschliessen die Abende: Klavierspiel, Gedichte, Worträtsel, Gesellschaftsspiele, oder man singt, denn schliesslich besitzt man ja eine eigene Liedersammlung. Einmal wird zum Beispiel auch ein Rezitations-Wettbewerb mit einer Jury und mit Preisen durchgeführt.

1925 reissen alle Aktivitäten des frisch aufgeblühten Vereins wieder ab. Der Grund ist diesmal ein interner: Der Präsident, der dynamische, vielseitige Pfarrer Herminjard (Eglise Française) mit seinen Talenten ist im Jahr zuvor unverhofft verstorben. Prof. Charles Siegfried, der in beiden Vereinen im Vorstand ist, wird Nachfolger, legt aber einige Monate später sein Amt wegen Überbelastung wieder ab. Mit Ausnahme der Kasse und Buchhaltung, wo bis 1935 noch einige Zahlungen getätigt werden, wie z.B. an die Gärtner Rüdlinger und Bücheler für die Pflege des Franzosengrabes (die Bourbaki-Gräber sind unterdessen zu einem einzigen Grab zusammengelegt worden), an die ehemaligen Fremdenlegionäre von Sidi bel Abbès und Syrien, Widmer, Weik, Finsterl, Schoch und Dupertuis, und Fr. 20.– für zwei Franzosen, die zu Fuss eine Weltreise machen, nimmt alles ein Ende. Die Archive des «Cercle Français de Bienfaisance» werden mit denen der «Alliance Française de Saint-Gall» zusammengelegt. Bereits seit gut 10 Jahren finden wir Doppelmitgliedschaften. So sind die Vereine zusammengewachsen, auch wenn uns keine dokumentierte offizielle Zusammenlegung vorliegt.

Von der «Société Française» zur «Alliance Française de Saint-Gall»

Jetzt nehmen wir den Faden nochmals bei der «Société Française» auf, welche 1900 im Spannungsfeld zwischen Reformern und Konservativisten flügellahm geworden war. Bei einer Veranstaltung 1911 werden nur 11 Anwesende verzeichnet. Die Vorstandssitzungen sind – glücklicherweise – in zwei Teile geteilt: der erste ist der eigentliche Arbeitsteil und der zweite der vergnügliche Teil. Der Sekretär dieser Zeit schreibt:

«Es ist 22:30, als wir zum zweiten Teil übergehen. Die Korken knallen, und der Wein schäumt in den Gläsern, und bald sind einige Flaschen «Neuchâtel blanc» leer. Dieser köstliche Rebensaft löst die Zungen und bringt alle in gute Laune. Monsieur Keel (der Präsident) singt zum Gaudi der Anwesenden in drei Sprachen, und der Sekretär rezitiert zwei komische Monologe. Es ist halb Eins, als wir unser letztes Glas auf die «Société Française» im Allgemeinen und auf die Gesundheit aller seiner Mitglieder im speziellen leeren.»

1907 würde man gerne einige junge Leute aufnehmen, «die durch ihre Intelligenz und ihren Charakter den Zielen des Vereins dienlich wären ». Das ist die Haltung der Epoche: Man möchte den Verein verjüngen, aber die Jungen sollen sich an ihn anpassen. Man steckt wieder in einer Flaute und tröstet sich mit dem grossen Ehrenpokal, das auf den zweiten Teil mit Waadtländer oder Neuenburger Wein gefüllt wird. Um 1910 organisiert man Gesellschaftsabende, zu denen die Ehefrauen und gar die Freundinnen lediger Mitglieder zugelassen sind. Ob diese gelockerten Sitten Einfluss darauf gehabt haben, dass ein Jahr später gleich 12 Neumitglieder der «Société» beitreten, ist nicht bekannt. Dieser Zuwachs hat aber das Fortbestehen des Vereins, der vorher nur noch aus 11 Mitgliedern bestand, wieder für eine gewisse Zeit gesichert. Manchmal dürfen jetzt auch die «graziösen Ehefrauen» an den Ausflügen teilnehmen. 1913 macht sich ein Neumitglied in Person des Pfarrers Herminjard explizit für die Zulassung der Frauen als Vereinsmitglieder stark, aber die Zeit scheint noch nicht reif zu sein, es wird noch sechs Jahre dauern.

In dieser Zeit kommt die Rede von Kulturvortragsreihen auf. 1912 begeht die «Société Française» ihr 50jähriges Jubiläum. Bei dieser Gelegenheit werden Kontakte zur sogenannten «Alliance Française de Zurich» und der entsprechenden Dachorganisation von Paris geknüpft, und die «Société Française» nimmt selber neu den Namen «Alliance Française de Saint-Gall» an. Hierzu ist bemerkenswert, dass es die von Deutschschweizern gegründete «Société» war, die zur «Alliance Française de Saint-Gall» geworden ist und nicht der ursprünglich französische «Cercle de Bienfaisance», so wie es auch erstaunt, dass die beiden Vereine, die übrigens jetzt beide gut von Schweizern und Franzosen durchmischt sind und praktisch die gleichen Ziele verfolgen, zu diesem Zweck nicht schon vorher fusioniert haben.



Ausserordentliche Mitgliederversammlung vom 10. Dez. 1912 im «Schlössli»


1913 kommt durch die Vermittlung der «Alliance» von Zürich Henri Welschinger von Paris, Mitglied des «Institut de France», für einen Vortrag über den Comte de Mirabeau nach St. Gallen. Ansonsten sind es vorwiegend die Mitglieder oder Leute aus ihrem Bekanntenkreis, welche Vorträge über ein Land, das sie kennen, oder sonstige Themen halten.

1915 zieht man die Frühlingsexkursion auf den 9. Mai vor, denn der 10. ist ein Datum der Mobilmachung, von welcher mehrere Mitglieder betroffen sind, darunter auch der Bibliothekar, der jetzt ersetzt werden muss.
Man abonniert «L'Histoire de la Guerre». Erst nach dem Ersten Weltkrieg (1919) wird es für Frauen möglich, der «Alliance» als Mitglieder beizutreten.

Von den 20er Jahren an wird die «Alliance Française de Saint-Gall» von Paris sowohl finanziell wie mit Büchern unterstützt. Der Verein kann die Mitglieder mit neuen Ideen bei der Stange halten. Eine «Commission de plaisir», geleitet von der jungen Mlle Jüstrich, kümmert sich um die Organisation von Veranstaltungen vergnüglicher Art. Ende 20er anfangs 30er Jahre ist der grosse jährliche Vereinsabend mit Theater, Ball und Tombola jeweils ein sehr gut besuchter Anlass, der 180 bis 200 Personen anzuziehen vermag.

1933 sieht es wohl als Folge der Wirtschaftskrise, die ab 1931 um sich greift, wieder anders aus: Man verzeichnet wieder Austritte. Die grosse Jahresveranstaltung wird gestrichen, weil zu kostspielig. 1936 versucht man es mit neuem Elan zu packen. Bei ihrer einstimmigen Wiederwahl als Leiterin der «Commission de plaisir» stellt Frl. Jüstrich mit Befriedigung fest, «wie sehr ihre Talente geschätzt» werden.

1939 muss das Vereinslokal «infolge lärmigen Verhaltens einiger jüngerer Elemente» gewechselt werden, die «Alliance» ist im Café Neumann nicht mehr erwünscht. Hat die «Commission de plaisir» etwa zu gut funktioniert? Wohin jetzt mit der unterdessen recht viel Platz einnehmenden Bibliothek? Das «Hecht» ist im Gespräch, schliesslich geht man aber ins «Wallhalla».
Auf Exkursion geht man jetzt mit Privatautos, von denen verschiedene Mitglieder Besitzer sind, und besucht das Schloss Arenenberg.

Dann ist während des Krieges wieder jegliche Aktivität unterbrochen.

Die Tätigkeiten werden im Jahr 1945 wieder aufgenommen. Herr Beausire wird Präsident, Frau Reiner Vizepräsidentin, Herr Grellet bleibt seinem Posten als Bibliothekar treu. In Sachen Vergnügungen ist man jetzt nüchterner, aber in der zweiten Hälfte der 40er Jahre kommen einige Konferenzen von einem gewissen Prestige zustande. André Maurois referiert 1946 über die USA; General Ingold 1947 zum Thema «Mit Leclercs Kolonne vom Tschadsee nach Tripolis» (im Kino Palace, mit Eintrittsgebühren zwischen Fr. 1.75 und 3.30); 1948 erzählt. General Giraud seine letzte Evasion, und De Lattre de Tassigny, der von der «Alliance» und den städtischen Behörden ehrenvoll empfangen wird, spricht 1950 vom «Epos der ersten französischen Armee».



Ab 1951 folgen sich die Konferenzen in einer gewissen Regelmässigkeit, aber im Rahmen der finanziellen Mittel: 1951 sind es ihrer fünf, 1952 zwei plus eine Filmvorführung über André Gide und 1953 wieder zwei Konferenzen. In dieser Zeit wie auch später hin und wieder wird die Klage laut, dass trotz allen Ankündigungen und den jeweiligen Einladungen an die Presse kaum je ein Zeitungsbericht über diese Veranstaltungen der «Alliance Française» erscheint.

Ab 1954 gibt es den «Tee der Damen», ein Nachmittagstreffen für Frauen, das zweimal im Monat im «Walhalla» stattfindet. Da in diesem Jahr keine Vortragsredner von Paris erscheinen, springt der Präsident Beausire mit Vorträgen über Paul Eluard, Mme Haller und Julien Green ein, und Vizepräsident Plattner spricht über die Malaria. Die Vortragstätigkeit wird in dieser Zeit zu einem festen Bestandteil des Programmes. Zu erwähnen ist noch, dass der Friedhof in St. Fiden seit 1955 aufgehoben ist und dass 1956 das Wallhalla brennt. Die «Alliance» muss sich wieder auf die Suche nach einen neuen Vereinssitz machen und zieht diesmal ins Hotel Hecht.

Hier brechen wir unsere Notizen ab, denn die Geschichte ist ein ewiger Neubeginn, und wir kommen zu einer Epoche, an welche viele lebende St. Galler selber Erinnerungen haben. Und manch älteres Mitglied hat die Vereinsgeschichte ab dieser Zeit auch selbst erlebt.

Amélie Pianca, David Zaug
St. Gallen, im Oktober 2002 retour au debut de la page